Ashtanga – alle Achte, oder was?

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Ashtanga – was? *

Der Begriff ashtanga setzt sich zusammen aus „ashtau“, dem Sanskrit-Wort für die Zahl 8, und dem Begriff „anga“, was soviel wie Teil oder Glied bedeutet.

dharmachakra
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Nicht nur im Yoga nimmt die Zahl acht eine wichtige Bedeutung ein. Die liegende Acht steht mathematisch und spirituell für die Unendlichkeit und damit auch für das Leben nach dem Tod, wird aber auch oft mit Balance und Harmonie in Verbindung gebracht. Im ostasiatischen Kulturkreis wird die Acht mit Glück und Reichtum in Verbindung gebracht. Im Buddhismus schließlich kennen wir – ähnlich wie im Yoga – den achtfachen Pfad, der schließlich aus samsara heraus, dem ewigen Kreislauf von Leben und Tod ebenfalls zur Befreiung führen soll. Das Symbol für diesen achtfachen Pfad ist das Dharmachakra, ein Rad mit acht Speichen.

Im Yoga Sūtra nach Patañjali wird erst relativ spät, nämlich im 29. Vers des zweiten Kapitels, der achtgliedrige Yogapfad dargelegt. Um die absolute Erkenntnis und für sich innere Freiheit zu erlangen, was auch oft als Erleuchtung oder samādhi bezeichnet wird, sind sieben Schritte erforderlich, wie aus Satz YS II.27 und YS II.28 hervorgeht: 

tasya saptadhā prānta-bhūmiḥ prajña. – Der Weg zur Erkenntnis hat sieben Stufen. (YS II.27)

yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir-āviveka-khyāteḥ – Durch das Üben dieser acht Glieder des Yoga werden die Unreinheiten überwunden, Weisheit und fortwährende Unterscheidungskraft erstrahlen. (YS II.28)

yama niyama-āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo-‚ṣṭāvaṅgāni – Achtung gegenüber Deinen Mitmenschen (yama) und Dir selbst, (niyama), Harmonie mit Deinem Körper (asana), Deiner Energie (pranayama), deinen Emotionen (pratyahara) und Deinen Gedanken (dharana), schließlich Meditation und Versenkung (dhyana) und Ekstase (samadhi), das sind die Glieder des achtfachen Pfades des Yoga. (YS II.29) **

Die acht Glieder des Yoga sind demnach yama (ethische Regeln im Umgang mit meiner Umwelt und den Mitmenschen), niyama (Richtlinien im Umgang mit mir selbst), āsana (wörtlich übersetzt, die Sitzposition oder Körperhaltung, im übertragenen Sinne, wie ich mit meinem Körper umgehe), prāṇāyāma (die Kontrolle über den Atem und meine Lebensenergie), pratyāhāra (das Zurückziehen der Sinne, wie ich mit meine emotionales Innenleben in Harmonie ausrichte), dhāraṇā (Konzentration bzw. Sammlung meiner Gedanken) und schließlich dhyāna (Meditation bzw. Versenkung), die schließlich zum achten Glied, zu Samādhi, führen.

Samādhi zu erfahren, kann vieles sein: die absolute Klarheit, reines Bewusstsein, innere Freiheit, Erleuchtung, maximale Einheit mit sich selbst, der so genannte „Flow“.

Die acht Glieder des Yoga werden oft grafisch als Stufen dargestellt, die linear und Schritt für Schritt von einem Glied zum nächsten führen sollen. Vor meinem inneren Auge sehen diese acht Glieder aber anders aus. Yama und niyama bilden für mich den fruchtbaren Boden, auf dem meine Yogashtanga-logoapraxis weiter gedeihen kann.

Yama und niyama sehe ich daher nicht unbedingt als vorbereitende Stufen, sondern als Rahmen und Grundlage für die weiteren Glieder, auf die ich mich – egal bei welchem Glied ich mich in meiner Praxis gerade befinde – immer wieder zurückbesinne und meine neuen Erkenntnisse und Erfahrungen auch stetig miteinander in Beziehung setze. Die yamas und niyamas verändern sich durch meine eigene Entwicklung durch die Yogapraxis und vice versa.

Der Weg der eigentlichen Übungspraxis, von āsana, prānāyāma, pratyāhāra und dhāraṇā zu dhyanā, führt mich dann von meinem grobstofflichen Körper immer weiter in den feinstofflicheren Bereich – also von meiner physischen Hülle immer weiter nach innen, bis zum allerschwierigsten Aspekt meines Seins, meiner Gedankenwelt.

Auf dem Übungsfeld von yama und niyama stelle ich mir den Yogaweg sich spiralförmig nach innen windend vor, die weiteren Glieder setzen sich dabei nicht stufen- oder sprungförmig fort, sondern gehen fließend ineinander über oder eröffnen sich mir gleichzeitig – bis ich schließlich ganz in meinem inneren Selbst angekommen bin, wo ich die absolute Freiheit, also samādhi, erleben kann. Damit wird auch klar, dass der Yogaweg in erster Linie ein Weg zu sich selbst nach innen ist.

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Sri K. Patthabi Jois (c) kpjayi.org

Das System des Aṣṭāṅga Vinyāsa Yoga nach Patthabi Jois stellt für mich persönlich die Vervollkommnung des achtgliedrigen Pfades dar. Die yamas und niyamas umgeben mich immer, auf meiner Matte, abseits der Matte, in meinem täglichen Leben. Auf eine geniale Art und Weise kombiniert die Übungspraxis mithilfe der Serie über länger gehaltene Körperpositionen, den fließenden vinyāsa-Bewegungen und die ujjāyī-Atmung āsana und prāṇāyāma.

Da traditionell im Mysore Style praktiziert wird, also jeder Übende bewegt sich in seinem Atemtempo und in seinem Rhythmus mit seinen Modifikationen durch die festgelegte Abfolge, entsteht alleine durch diese besondere Methode pratyāhāra und dhāraṇā: Die Sinne, die im Alltag vom Nach-innen-Spüren ablenken, sind nach innen auf das Rauschen des Atems, auf das Spüren der Bewegungen und auf die energetische Wirkung der Praxis gerichtet, und ich bin tief konzentriert auf mein Tun.

Aṣṭāṅga Vinyāsa Yoga ist so viel mehr als „nur“ eine herausfordernde physische Praxis. Es kann sich zu einer Bewegungsmeditation entwickeln – und schließlich eventuell zu Samādhi.

 * Dieser Text ist die Modifikation der Frage aus meiner BDY-Abschlussarbeit: In welcher inneren Beziehung stehen die acht Yoga-Glieder von Patañjali zueinander?
** Weitere Erläuterungen zu den einzelnen Sutren gibt es unter dem zugehörigen Link auf der Webseite von Dr. Ronald Steiner ashtangayoga.info

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